Hospiz

Schnell sass Helen in der Mitte der Krone und hielt erst einmal inne, um die durchsichtigen Schemen in ihrem Tanz zu bestaunen. Sie flatterten durch die Blätter und huschten den Ästen entlang. Vorsichtig wagte sich Helen weiter auf die Äste hinaus und streckte eine Hand aus. Der Geist wich ihren Fingern aus und hüpfte auf einen anderen Ast. Helen kletterte ihm nach, aber er wich ihr erneut aus. Wollte sich nicht berühren lassen oder einfach spielen? Sie wollte ihm erneut nachklettern, als sie ein leises Knacken neben ihrer Hand hörte und sofort einen Schritt zurück machte. Wenn sie jetzt noch runterfiel, würde Marta sehr böse werden. Sie wagte nicht nach unten zu blicken, womöglich war Akiko auch wütend, schliesslich durfte Helen gar nicht auf den Baum klettern, wegen den brüchigen Ästen.
Das Mädchen beschloss, nicht weiter hinauszuklettern, und setzte sich stattdessen auf einen kräftigeren Ast. Die Fröhlichkeit der Geister hatte sie angesteckt. Übermütig liess sie sich nach hinten gleiten und baumeln, wobei sie die Arme hängen liess und nur mit den Knien den Ast umklammerte.
Dabei fiel ihr auch zum ersten Mal auf, dass noch jemand im Garten war. Auf einer kleinen, leicht versteckten Bank sass ein fremder Mann und schaute zu ihnen hinüber. Helen teilte mit einer Hand den herunterhängenden Haarvorhang, damit sie besser sehen konnte, und winkte mit der anderen Hand den beiden Erwachsenen zu.
Dass es möglicherweise ein Trauernder war, der sich an Helens Fröhlichkeit stören könnte, hatte das Mädchen momentan vergessen.

Er bemerkte den verdutzten Blick von Akiko. Sie schien ihn zuvor wirklich nicht bemerkt zu haben. Die Ruhe und Geborgenheit die dieser Garten ausstrahlte hatte wohl dazu beigetragen. Hier erwartete man keine Angriffe, keine Räuber oder Krieger. Alles war ruhig und friedlich. Beschämt wand sie sich wieder ab, nachdem sich ihre Blicke getroffen hatten. Ihm war klar warum und doch hielt er es für unnötig. Was war schon dabei sich mit der Unbeschwertheit eines Kindes anstecken zu lassen? Den Kopf wieder gehoben sah er zu der Kleinen, die nun kopfüber an einem der Äste baumelte und ihm zuwinkte. Sanft lächelnd hob er ebenfalls den Arm und winkte zurück. Wie konnte er Akiko die Scham besser nehmen, als wenn er mit einstieg? Er beugte sich vor und zog die kleine, filigrane Flöte aus seinem Stiefel. Dann erhob sich der Jäger und kam ebenfalls zum Kirschbaum hinüber. Neben der Weißhaarigen blieb er stehen und legte den Kopf in den Nacken um die kleine Helen besser sehen zu können. "Lassen wir die Waldgeister doch etwas im Wind der Melodien tanzen." ,schlug er vor und setzte die Flöte an die Lippen. Das Lied das er anfing zu spielen klang ein wenig wie eine Marschmusik, war dabei aber fröhlich, locker und kindlich. Er bewegte das Instrument während er spielte leicht hin und her und auf und ab, als würde er die kleinen Geister damit ebenfalls dirigieren wollen.
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Seit sie Kha bemerkt hatte, war Akiko`s Verhalten gehemmter…die kleine Helen hingegen schien sich nicht an ihm zu stören. Fröhlich winkte sie den beiden zu, während sie beinahe wie ein kleines Äffchen an einem der Äste kopfüber baumelte. Dieser Anblick war Akiko sehr vertraut. Sie selbst hing früher sehr oft  genauso wie Helen jetzt in den Baumwipfeln und beobachtete das Geschehen. Zögerlich hob sie schließlich auch die Hand und winkte Helen. Ihr Lächeln war sachte, kaum zu sehen. Zu sehr hing sie an den Gedanken der Vergangenheit – an die schönen und die schlechten. Nun war ihr Ausflug in die Traumwelt offenbar vorbei. Das Flüstern des Windes verstummte und die tanzenden Blätter bewegten sich lediglich sachte im Wind. Selbst der Musik von Kha, die sie als angenehme Melodien kennen gelernt hatte, war jegliche Magie geraubt worden. Sie vernahm die Töne, doch sie erreichten ihr Herz kaum noch. Die Realität hatte sie wieder eingeholt und mit ihr die Sorge, wie es weitergehen sollte. Wenn der neue Monat anbrach würde Kha die Krieger ersuchen, um in ihre Reihen aufgenommen zu werden. Bis dahin waren es keine vier Wochen mehr. Und spätestens dann würde Akiko ihre ungewisse Reise alleine fortsetzen müssen. Sie brauchte eine Waffe. Eine, mit der sie lernen konnte zu kämpfen. Eine, mit der sie ihr Leben schützen konnte. Das Schwert auf ihrem Rücken erschien ihr mehr und mehr ein Klotz am Bein zu sein. Gerne würde sie heute noch einmal in die Stadt gehen, bevor die Nacht hereinbricht. Vielleicht würde es eine Weile dauern, eine gute Waffe zu finden. Wenn die kleine Helen versorgt wäre würde sie Kha bitten ihn zu begleiten. Da sie selber noch kein Geld verdient hatte, konnte sie nur einen Tauschhandel mit ihrem Schwert eingehen. Und das würde ihr in ihrer Unerfahrenheit ohne Kha wohl nicht gelingen.
Schließlich hob sie wieder den Blick um zu sehen, was die kleine Helen so trieb.

Freudig klatschte Helen in die Hände, als der Fremde sein Lied beendet hatte. Sie sah hoch in den Wipfel, um die Geister weiter tanzen zu sehen und sah, dass die sich in die höchsten Äste zurückgezogen hatten. Etwas verwundert zog sie sich wieder auf den Ast und blickte sich um, was die Stimmung so verändert hatte. Auf den ersten Blick bemerkte sie nichts, aber sie erspähte etwas anderes: im Kreuzgang leuchtete helle Kleidung auf. Schnell machte Helen eine Rolle vorwärts, hing kurz an den Händen am Ast und liess sich dann ins Gras plumpsen. Beiläufig wischte sie sich Rindenstückchen vom Rock und versuchte unschuldig dreinzuschauen, als Martha um die Ecke bog.
Aber anscheinend war sie nicht so gut darin, die Köchin hatte den Garten kaum betreten und nur ein Blick auf Helen geworfen, da schüttelte sie schon tadelnd den Kopf.
„Mädchen, was versteckst du jetzt wieder hinter deiner Engelsmiene?“, tadelte sie sanft. Helen blickte scheinbar betreten auf ihre Füsse, antwortete jedoch nicht. „Eines Tages wirst du noch herunterfallen und dir irgendetwas brechen“, seufzte Martha. Besorgt aber leicht versöhnlich strich sie dem Mädchen über den Kopf. Helen blickte mit einem Lächeln auf. „Ich wollte mir nur die Geister genauer ansehen“, erklärte sie und zeigte in den Baumwipfel. „Sie haben so lustig getanzt.“
Martha blickte kurz in den Baum hinauf und überlegte, dann fasste sie Helen bei den Schultern und sagte ernst: „Schau ihnen das nächste Mal von hier unten zu. Der Kirschbaum ist alt und die Äste sind brüchig, ich will dich nicht auch noch pflegen müssen.“ Als Helen gehorsam nickte, dabei aber auf ihre Füsse starrte, seufzte die Köchin ergeben, ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen wandte sie sich an Akiko und Kha.
„Was soll man machen“, ergänzte sie zu den Erwachsenen mit einem Lächeln. „Ich hoffe, sie hat Sie nicht in ihrer Ruhe gestört.“

"Ruhe hat man genug wenn man tot ist." ,gab der Jäger knapp und mit ernstem Ton von sich. Auch wenn er in den letzten Jahren viel die Ruhe und Einsamkeit gesucht hatte, fast schon von ihr verfolgt wurde...so würde er doch nie von einem Kind verlangen still zu sein. Zumindest nicht wenn es keinen dringenden Anlass dazu gab. Kaum das der letzte Überlebende seines Dorfes verstorben war, hatte er zu spüren bekommen wie erdrückend und grausam die Ruhe sein konnte. Wie eine schwere, schwarze Decke die alles unter sich ersticken wollte.
Erst einen kurzen Augenblick später wurde dem Schwarzhaarigen bewusst, wie seine Worte auf die anderen wirken könnten. Er bemühte sich ein schmales Lächeln auf die Lippen zu bekommen und verstaute die Flöte wieder in seinem Stiefel. "Kinder sollten ruhig laut sein und toben dürfen. Der Ernst des Lebens holt sie schnell genug ein." ,sagte er mit etwas sanfterer Stimme. "Findet ihr nicht auch?" Dabei wand er sich an Akiko. "Ich soll euch noch Grüße ausrichten von Lorek." ,fügte er scheinbar zusammenhanglos hinzu. Er wollte es einfach nicht vergessen, da ihn der Söldner darum gebeten hatte.

Kha`s Antwort kam ziemlich plump rüber, beinahe schon hart. Doch nach wenigen Augenblicken schien er selber zu merken, dass er sich vielleicht unfreundlichen ausgedrückt hatte, als er es meinte. Und trotzdem – dieser Satz aus seinem Mund hatte einen bitteren Beigeschmack, wenn man seine Vergangenheit kannte. Akiko nickte, als Kha sie ansprach und wand sich dann an Martha.
„Ich muss ihm beipflichten. Sie hat mich nicht gestört. Ganz im Gegenteil….Spaß hat es gemacht“, sagte sie wieder lächelnd und strich der kleinen Helen sachte über den Kopf.
Und das war nicht mal übertrieben. Das kleine Mädchen musste man einfach gerne haben.
„Morgen werden wir erfahren, ob wir einige Zeit bei euch bleiben und hier arbeiten können“, erklärte sie Helen und fuhr fort:
„Und wenn es so ist, dann werden wir uns bestimmt noch öfters sehen“, sprach sie zu dem kleinen Mädchen und wand sich dann wieder an Martha.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, dann würde ich mich gerne noch ein wenig in der Stadt umsehen, bevor die Nacht herein bricht…“, erklärte sie Martha und wand sich dann an Kha.
„Lorek ist fort?...Verstehe…nun denn…ihr werdet ihn bestimmt wieder sehen“, sprach sie, auch wenn die Worte keine angenehmen Emotionen in ihr hervorriefen.
„..Wäre es euch unangenehm mich noch einmal in die Stadt zu begleiten?“, fragte sie schließlich etwas zögerlich, blickte ihn aber abwartend an. Hier vor Martha wollte sie nicht den Grund nennen, weshalb sie noch einmal in das Zentrum wollte. Es würde vielleicht etwas merkwürdig klingen, wenn sie erklärte, dass sie eine andere Waffe bräuchte. Sie hoffte einfach, dass Martha nichts dagegen hätte. Zumindest fiel ihr kein Grund ein, der dagegen sprach. Ein klärendes Gespräch würde es erst morgen geben und Jord und Martha hatten den beiden ja gesagt, dass sie sich heut Abend einfach eine Liege zum Schlafen suchen sollten.

„Jeder Mensch braucht Zeit, um sich gelegentlich auszuruhen. In der Stadt kann es sehr turbulent sein“, entgegnete Martha ruhig. „Wer diesen Garten aufsucht, braucht gewöhnlich einen Ort zum Nachdenken oder Beten.“
Eigentlich hatte sie gedacht, dass die beiden Fremden die Ruhe gesucht hätten. Sie schienen die Stadt nämlich nicht gewohnt zu sein. Nach Khas weiteren Worten lächelte sie versöhnlich und wandte sich wieder an Helen: „Hast du das Beet fertig gejätet?“ Geduldig liess sie sich vom Mädchen das gejätete Beet zeigen und bestaunte laut die geleistete Arbeit, worauf Helens Augen aufleuchteten.
„Wunderbar gemacht, Helen“, lobte sie das Mädchen. „Aber nun ist es Zeit fürs Bett.“ Helen zog eine Schnute, worüber Martha erneut lächeln musste. „Vielleicht könntest du deinen Freunden noch schnell zeigen, wo sie heute Nacht schlafen können“, fragte sie das Mädchen, „damit sie später nicht das ganze Hospiz aufwecken.*
Helen nickte eifrig und wandte sich zu Akiko. Ihre saure Miene war sofort verschwunden, worüber Martha schon wieder lächeln musste. Die Betreuung des Kindes heiterte sie immer wieder auf und entschädigte sie wunderbar dafür, keine eigenen Kinder zu haben.
Doch dann wandte sie sich ebenfalls an die Besucher. „Natürlich könnt Ihr noch einmal auf die Strasse, ich sage dem Nachtwächter Bescheid, falls eure Rückkehr später wird“, versprach sie. „Aber seid vorsichtig: nach Sonnenuntergang treiben sich viele Gauner in der Stadt herum und die meisten ehrlichen Leute sind weg.“
Helen zog Akiko an der Hand aus dem Garten in Richtung Ziegenstall, in dessen Heustock sie ihr Lager hatte. Martha blickte ihr nach und machte sich dann auf den Rückweg zur Küche, um einen Stapel dreckiger Schüsselchen vom Abendessen abzuwaschen.

„Einen Ort zum Nachdenken oder Beten…ja…ihr habt Recht. Dieser wunderschöne Garten stärkt Körper und Seele. Es tat gut hier eine kleine Auszeit zu nehmen…dennoch gibt es etwas, was ich gern erledigen möchte.“, erklärte Akiko Martha. Ihr Blick folgte ihr und der kleinen Helen, während beide die Arbeit des kleinen Mädchens begutachteten und lobten. Sie hielt etwas Abstand, konnte aber deutlich Marthas Bitte an das Mädchen hören. Sie sollte ihren Freunden zeigen, wo sie heute Nacht schlafen könnten. Freunde. Konnte man Kha und sie als Freunde bezeichnen? Wann durfte man sich als Freund bezeichnen? Offenbar ging man im Allgemeinen eher unbeschwert mit diesem Wort um. Insgeheim freute es Akiko, dass sie und Kha hier willkommen schienen – obwohl sie Fremde waren.
„Oh, dankeschön Martha. Ich glaube nicht, dass es so spät werden wird…aber es kann kein Fehler sein den Nachtwächter zu informieren. Habt dank für euren Hinweis, wir werden dunkle Gassen meiden“, sprach sie davon ausgehend, dass Kha sie begleiten würde. Auch wenn er ihr eigentlich noch gar nicht geantwortet hatte. Kurz überlegte sie, ob er diese Bevormundung als unhöflich empfinden könnte…? Wenn dem so war, würde er es sich sicherlich anmerken lassen. Oder sagen. Auch wenn sie Kha noch nicht so gut kannte, so hatte sie bereits gemerkt, dass er nicht lange zurückhielt, wenn ihn etwas wirklich störte. Auch wenn er sonst manchmal etwas wortkarg schien.
Akiko blieb keine Zeit länger zu überlegen, denn Helen hatte schon ihre Hand ergriffen und zog sie zielstrebig aus dem Garten heraus. Kurz warf sie einen auffordernden Blick über ihre Schulter zurück zu Kha und lächelte leicht. Dann wand sie sich wieder nach vorne an Helen.
„Nicht so schnell, sonst hängen wir Kha noch ab. Du weißt wohl schon, wo wir heute Abend schlafen dürfen?“, fragte sie neugierig und ließ sich bereitwillig von Helen hinterher ziehen.

Eifrig zog Helen Akiko hinter sich zum Ziegenstall. Auf ihre Worte hin blieb sie sofort stehen und drehte sich mit zweifelnder Miene zu Kha um, der immer noch unschlüssig da stand. Dann entschied sie, dass er schon nachkommen würde, und zog Akiko weiter.
„Ist er dein Mann?“, fragte sie die Frau neugierig. „Warum hat er so lange Haare?“ Tatsächlich hatte sie noch keinen Mann gesehen, dem die Haare bis auf den Rücken gingen.
Helen steuerte am Ende des Kreuzganges in einen Nebengang und öffnete dort eine Türe, die sie auch vorsichtig hinter ihnen wieder gut verschloss. Ernst erklärte sie den Erwachsenen, dass die Türe unbedingt zu sein musste, damit die Ziegen nicht in den Garten ausbrechen konnten.
Nun standen sie in einem halbdunklen Raum, durch zwei flache Mauerlücken sowie Lücken in der Holzdecke drang Licht hinein. Sie wurden sofort von Gemecker begrüsst und Helen rannte in die Mitte des Raumes, wo die vorwitzigen kleinen Gitzi sofort an ihrer Kleidung und Händen schnupperten und knabberten.
Die erwachsenen Ziegen waren der Wand entlang angebunden, 10 Ziegen nebeneinander und am entfernten Ende der Ziegenbock, und konnten daher nicht angelaufen kommen, aber alle drehten sich zu ihnen um und beäugten kritisch die Eindringlinge.
Helen kniete nieder und lachte auf, als eines der Gitzi mit den Vorderbeinen an ihr hochstand und an ihren Haaren knabberte. „Das ist Flöckli“, stellte sie das weisse Zicklein vor. „Martha hat versprochen, dass wir sie behalten.“
Fröhlich umarmte sie die Ziege kurz, bevor sie sie energisch zurückschob und eine Leiter direkt neben dem Eingang hochstieg. Oben kletterte sie durch die Luke in den Heustock, der nun im Frühling grösstenteils leer war. Das Dach war intakt und liess kein Licht durch, aber auf der Stirnseite des Hauses befanden sich Schlitze in der Holzwand, damit der Heustock etwas belüftet wurde. Trotzdem war es ziemlich düster hier. Doch da im Hospiz jedes Bett mit einem Patienten belegt war, hatte Helen ihr Lager hierher verlegt. Was ihr aber nichts ausmachte.
Gut gelaunt ging Helen zu ihrem Lager aus Stroh und Wolldecken, stellte säuberlich die Schuhe davor und hüpfte darauf.
„Dort sind noch mehr Decken“, sagte sie Akiko und deutete auf einen Stapel direkt neben der Luke zum Stall. „Martha sagt, wenn die Patienten wieder heimgehen können, kann ich wieder im Hospiz schlafen, aber mir gefällt es hier.“
Sie setzte sich im Schneidersitz hin und zog aus ihrer Tasche eine Brotkruste hervor. „Ich mag die Mäuse“, verkündete sie. „Wenn ich lange genug ruhig warte, kommen sie aus dem Loch.“

Akiko kam ihm zum Glück ein wenig zur Hilfe nachdem er seinen Wortlaut etwas korrigiert hatte und Kha beschloss vorerst lieber wieder zu schweigen. Erst als sie ihn zögerlich darum bat sie noch einmal in die Stadt zu begleiten, sah der Jäger die Weißhaarige einen kurzen Augenblick verwundert an, ehe er verstand was sie damit bezweckte. Ein Nicken folgte. "Natürlich begleite ich euch." ,antwortete er knapp. Auch ihre Worte zum Söldner Lorek ließen ihn nachdenklich werden. Sollte er den jungen Mann wirklich in der Kremso Gilde wieder treffen? Möglich wäre es. Martha wand sich dem Mädchen zu und wies sie schließlich an ihnen ihre Unterkunft für die Nacht zu zeigen. Die hilfreiche Köchin versicherte noch das sie dem Nachtwächter bescheid geben würde über ihre Abwesenheit und gab ihnen auch gleich den Rat mit auf den Weg vorsichtig zu sein, da viele Gauner in der Stadt nach Sonnenuntergang unterwegs waren.
Wieder nickte der Schwarzhaarige leicht als Martha sich verabschiedete und bedankte sich ebenfalls. Leicht schmunzelnd beobachtete er wie Helen Akiko's Hand ergriff und die junge Frau regelrecht hinter sich her zog. Erst als sie noch einmal auffordernd zu ihm zurück sah erwachte er aus seiner Starre und setzte sich in Bewegung um ihnen zu folgen. Auch das Mädchen hatte kurz gestoppt, wohl um auf ihn zu warten. Doch der Jäger war ihr scheinbar zu langsam. Kha musste gestehen das seine Auffassungsgabe grade ziemlich beträchtlich nachließ. War es der anstrengende Tag?
Die Dinge die er gesehen, gehört und erfahren hatte? Oder war vielleicht doch etwas im Tee der beiden gewesen? Doch die Ruhe und Gelassenheit die er spürte empfand er nicht als negativ. Wortlos folgte er den beiden Damen und bekam die neugierige Frage von Helen, ob er Akiko's Mann sei, nicht mit. Auch ihre Verwunderung zu seiner Haarlänge hörte er nicht. Im Gebirge wo er aufgewachsen war war es normal und üblich die Haare lang wachsen zu lassen. Egal ob Mann oder Frau. Alle hatten sie schwarzes, glattes und langes Haar. Wenn Händler oder Reisende kamen die rotes, blondes oder gar lockiges Haar hatten waren sie sofort eine Rarität!
Somit war auch die Haarpracht von Akiko für Kha mehr als ungewöhnlich. Solch helles Haar wäre in den schneebedeckten Gipfeln aber sicher gut zur Tarnung gewesen.
Durch die Tür gegangen die das Mädchen für sie öffnete und verantwortungsvoll auch wieder schloss, betraten sie den Ziegenstall. Die kleinen Zicklein liefen frei umher und umkreisten Helen auch sogleich. Die ausgewachsenen Ziegen waren alle angebunden. Sogar einen Ziegenbock erkannte Kha an der hinteren Wand. Die Kleine verkündete stolz den Namen eines der Zicklein und das sie es behalten dürfte. Ja das waren Dinge mit denen man ein Kind glücklich machen konnte. Ein Tier um das es sich kümmern durfte. Etwas besonderes den anderen Tieren gegenüber. Das lehrte Verantwortung und stärkte das soziale Verhalten.
Wie so oft wenn der Jäger sich in der Nähe von Kindern aufhielt, merkte er gar nicht das sich das Schmunzeln regelrecht festsetzte auf seinen Zügen. Die Unbeschwertheit und Freude von Kindern schien alles Leid der Welt verschwinden zu lassen. Über eine Leiter ging es nach oben auf den Heuboden. Hier würden sie also die Nacht verbringen, gemeinsam mit dem Mädchen. Denn auch sie hatte ihr Lager dort und machte es sich darauf gleich bequem. Kurz blickte er zu den verbliebenen Decken. Gemeinsam mit dem Stroh würde es eine bequeme Nacht werden. Da waren sie ja beide schon anderes gewohnt. Er nahm eine der Decken und legte sie über einen der verbliebenen Heuhaufen nahe der Leiter. Bedächtig zog er sie eng über das knisternde Material bis ein Schlafplatz entstand der annähernd groß genug war. Aus den Augenwinkeln bemerkte er auch schon wie eine der besagten Mäuse aus dem Strohberg floh und im Dunkel verschwand. "Ich denke du wirst heute etwas länger warten müssen, nun wo Akiko und ich die Ruhe der kleinen Sippe gestört haben." ,meinte der Jäger belustigt. Aber wenn sie noch etwas wach blieb würden sich die Mäuse vielleicht noch zeigen nachdem Akiko und er gegangen waren.

„Mein Mann?!“, entfuhr es Akiko, als die kleine Helen sie ganz selbstverständlich fragte, ob Kha ihr Ehemann sei.
„Natürlich nicht. Ich werde ganz gewiss niemals heiraten!“, sprach sie entschlossen und mit leicht düsterer Miene, als sie sich etwas von der unerwarteten Frage erholt hatte. Aber wie konnte das Helen schon verstehen. Sie war noch viel zu klein und kannte noch nicht das hässliche Antlitz dieser manchmal verkommenen Welt…sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, welch negative und dramatische Bedeutung Männer in Akikos Leben hatten. Wenngleich Kha aus einem anderen Holz geschnitzt zu sein schien und Akiko ihn akzeptierte und respektiere, ja vielleicht sogar seine Gesellschaft nicht schmerzend sondern angenehm empfand, so war die Vorstellung, dass er und sie ein Liebespaar waren, doch sehr absurd. Generell zweifelte Akiko, ob es tatsächlich eine ernsthafte Liebe zwischen Mann und Frau überhaupt geben konnte. Gwiss, in ihren Geschichtsbüchern handelten viele Erzählungen von der Liebe. Doch außerhalb dieser Papierwelt war ihr etwas vergleichbares nie begegnet.

Im Ziegenstall angekommen wurde Helen sogleich von einem kleinen Zieglein begrüßt. Und das auf eine Art und Weise, die jedes Kind verzaubert hätte.
„Flöckli? Das ist ein schöner Name. Hast du ihr den gegeben?“, fragte Akiko und schaute belustigt dem Schauspiel der beiden zu.

Schließlich folgte sie dem kleinen Mädchen in den Heuboden, in welchem sie alle schlafen würden. Es roch angenehm nach Kräutern. Trotzdem war es ein wenig stickig. Wahrscheinlich kam es Akiko so vor, weil sie es gewohnt war unter freiem Himmel zu schlafen. Dass hier oben auch Mäuse heimisch waren, störte Akiko nicht im Geringsten. Inzwischen war Kha ihnen gefolgt und hatte sich seinen Schlafplatz schon ausgesucht. Akiko tat es ihm gleich und nahm sich eine der Decken vom Stapel, legte diese aber nur aufs Stroh ohne große Vorbereitungen. Sie wollte nur vermeiden, nachts noch einmal quer durch den Heuboden zu laufen. Es war ungewiss, wann sie zurück sein würden, doch sie ging davon aus, dass Helen dann vielleicht schon schlief.

„Vielen Dank, dass du dein Nachtlager heute mit uns teilst. Das ist nett von dir“, sprach sie zu dem kleinen Mädchen und blickte dann abwartend zu Kha, ob er bereit war in die Stadt auszubrechen.

Die lauten Worte von Akiko entgingen ihm jedoch nicht. Den Blick verwundert zu ihr gehoben, brauchte er einen Augenblick um die Bedeutung ihre Ausrufes zu verstehen. Er hatte ja anfangs deutlich zu spüren bekommen und von ihr auch erfahren was sie von Männern hielt. Vermutlich hatte das Mädchen sie beide für ein Paar gehalten. Nachdenklich legte Kha die Hand an die Kette die er um den Hals trug. Schon in recht jungen Jahren hatte er darüber nachgedacht zu heiraten. Für ihn war es etwas besonderes, ein Ereignis auf das man lange hinarbeitete. Und es hatte für ihn nur ein Mädchen gegeben das an seiner Seite sein sollte. Feh war erst 17 gewesen als sie starb. Wäre dieses schreckliche Unglück nicht geschehen, hätte er ihr diese Kette geschenkt als Zeichen seiner Liebe. Um sie zur Frau zu nehmen. Hätte sie die Kette angenommen wäre er wohl der glücklichste Mann auf der Erde gewesen. Doch es sollte nicht sein. Somit trug er sie als Erinnerungsstück um seine einzige, große Liebe nie zu vergessen.
Die Worte der Weißhaarigen verletzten ihn nicht. Sie drückte es so aus, das sie niemals heiraten würde und nicht das sie speziell ihn niemals heiraten würde. Was sowieso absurd war. Sie bestritten nur einen Teil ihres Weges gemeinsam. Das machte sie noch lange nicht zu einem Paar. Dennoch hütete sich Kha einen Kommentar dazu zu äußern.
Sein Lager vorbereitet blieb er halb gebückt nahe der Schräge stehen und sah zu den beiden Damen. Akiko's Blick traf den seinen und er nickte stumm. Sie wollte aufbrechen und es sprach nichts dagegen. Kurz zurrte Kha noch einmal den Gurt etwas fester, der den Bô-Stab an seinem Rücken befestigte und trat an die Leiter heran. "Lasst uns gehen ehe die Geschäfte geschossen werden. Ich wünsche eine gute Nachtruhe Helen." ,wand er sich von seiner Begleiterin zu dem kleinen Mädchen und lächelte leicht bevor er die Leiter wieder runter kletterte.

Nachdem auch Akiko sich von der kleine Helen verabschiedet hatte, verließ sie gemeinsam mit Kha den Heuboden. Prüfend drehte sich Akiko noch einmal um, um sicher zu gehen, dass Helen ihnen nicht versuchte zu folgen. Aber das Mädchen schien keinen Versuch zu starten. Zufrieden lächelnd setzte sich Akiko in Bewegung. Nun sollte sie also ihr Weg noch einmal in die Stadt führen. Während die junge Frau einen Schritt um den nächsten setzte, dachte sie eine Weile nach. Eine ganze Weile. Die beiden hatten zwischenzeitlich das Hospizgelände verlassen und passierten eine der unzähligen Nebenstraßen in Tinae. Die Dämmerung würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Schon jetzt stand die Sonne recht tief am Himmel und tauchte die Umgebung in ein warmes, rötliches Licht.

„Helen…“, begann Akiko leise und blickte nachdenklich auf den Weg.
„Sie ist ein liebes Mädchen, nicht wahr? … Sie ist ehrlich, aufrichtig und mutig. Obwohl sie noch so klein ist, hat schon jetzt eine starke Persönlichkeit. Selbst ihre Dickköpfigkeit ist amüsant und liebenswert“, sprach sie und schwieg dann wieder für einige Momente. Ihre Mutter hatte ihr manchmal erzählt, was sie selbst für Unfug im Kopf hatte, als sie noch klein war. Und wenn Akiko jetzt so darüber nachdachte, dann war sie Helen vielleicht ähnlicher gewesen, als sie anfangs dachte. Kurz lugte sie zu Kha, dann schaute sie wieder auf den Boden. Ihre Flucht auf dem Wald war erst ein paar wenige Tage her, doch seither beschäftigte Akiko etwas. Womöglich konnte sie …mit Kha darüber…?

Vorsichtig griff sie nach seinem Oberarm, um ihn zum stehen zu bringen.
„Kha?! Darf ich euch mal etwas fragen?“, begann sie zögerlich und ihr Gesichtsausdruck wirkte beinahe…gequält.

Schweigend gingen sie nebeneinander her, verließen das Hospiz und betraten wieder die Straßen von Tinae. Die Dämmerung kam immer näher und sie näherten sich auch langsam wieder der großen Hauptstraße. Nahe des Marktes waren sie auf den Trupp getroffen. Die Leute der Gilde, die sein Dorf ausgelöscht hatten... Nur kurz ließ der Jäger den Gedanken an dieses Aufeinandertreffen zu und prompt verkrampften sich seine Hände wieder zu Fäusten. Es war gut das er Akiko seinen Dolch gegeben hatte. Er wollte niemals wieder so die Kontrolle verlieren. Schnell löste er sich von der Erinnerung und lauschte lieber den Worten seiner Begleiterin. Sie redete über Helen. Das Mädchen schien es ihr angetan zu haben. Sie war aber auch eine wahre Frohnatur gewesen. Eine Wohltat bei so viel dunkler Vergangenheit die sie ja beide teilten.
"Ja das ist sie. Sicher hat sie diese Persönlichkeit von ihren Eltern und letztlich auch von Martha gelehrt bekommen." ,meinte er leise. Für jedes Kind war es wichtig das es in den ersten Jahren seines Lebens zumindest einen Menschen um sich hatte der ihm die richtigen Werte vermittelte und den Grundstein für eine solch starke Persönlichkeit legte. Das war seine Ansicht. Es musste nicht immer ein Blutsverwandter sein. Aber es musste ein guter Mensch sein. Sei es ein Lehrmeister, ein Kindermädchen oder eine alte Witwe. War dieser Grundstein gelegt konnte man jedes Unglück, so schrecklich es auch sein mochte, irgendwie verkraften und dennoch ein gutes Wesen behalten. Aber Schicksalsschläge veränderten Menschen. Er selbst war ein gutes Beispiel. Kha war bewusst wie sehr er sich geändert hatte. Und sicher war auch Akiko als Kind ganz anders gewesen. Einen kurzen Einblick hatte sie ihm ja zuvor unfreiwillig gegeben, als sie mit Helen im Kräutergarten gesprochen hatte.
Plötzlich spürte er ihre Hand an seinem Oberarm. Der Schwarzhaarige blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Ihn beim Namen genannt sah sie ihn mit einem regelrecht gequälten Gesichtsausdruck an und wollte ihn etwas fragen. Es war dem Jäger unmöglich auch nur zu erahnen was es sein konnte, was sie wissen wollte. Aber es schien ihr schwer auf der Seele zu liegen. Einen Augenblick sah er sie ruhig an, als wollte er ihr so etwas die Sorgen nehmen und nickte dann kaum merklich. "Nur zu."

-> Tbc: Tinae | Hauptstraße Kirena

Ein verirrter Sonnenstrahl drang durch einen Ritz der Bretterwand des Ziegenstalles und traf das Gesicht des Jägers. Kha kniff die geschlossenen Lieder fester zusammen und sog die Luft scharf durch die Nase ein. Ein Vorgehen, welches er urplötzlich wieder unterbrach, da der Geruch von tierischen Exkrementen seine latente Übelkeit um einiges verstärkte. Mit einer Mischung aus Würgen und Husten, drehte sich der Schwarzhaarige auf die Seite und hielt sich mit der linken Hand die pochende und schmerzende Schläfe, während er sich mit der rechten Hand in eine halb sitzende Position hoch drückte. Ein langgezogenes Stöhnen entkam seinem Mund. Was war mit ihm passiert? War er wieder krank? Fiebrig fühlte er sich zwar nicht, doch die Lichtempfindlichkeit kam ihm bekannt vor. Die Frage wo er sich befand, wurde ihm gleich darauf lauthals von einer Ziege beantwortet, die unweit von ihm anfing zu meckern und den schwer Verkaterten zusammen zucken ließ. Mühsam öffnete Kha endlich die Augen und blinzelte gegen das gedimmte Licht an.


Wie hatten sie nur glauben können, ungeschoren aus dem Gasthaus wieder heraus zu kommen? Kha hatte das Geld für die Getränke bereits auf den Tisch gelegt und einen der Jungen gerufen, während sie sich auf den Weg zur Tür machten, als die Männer am Tresen sich zu ihnen umdrehten und sie ansprachen. Die beiden Fremden wurden sogleich von ihnen ausgefragt. Dabei erwiesen sich die Herren als äußerst gastfreundlich. Schon wurden sie zu weiteren Krügen mit Bier und Wein eingeladen. Die Wirtin des Hauses stieß dazu und nahm das ungleiche Paar unter ihre Fittiche. Wobei sie natürlich nichts gegen die ausgeschenkten Getränke hatte. Kha versuchte noch die Angebote aus zu schlagen, doch man versicherte ihm, dass dies sehr unhöflich wäre. So kam es, dass der Himmel bereits wieder grau wurde, als sie das Gasthaus endlich verlassen konnten. Die Stimmung war bestens gewesen. Es wurde viel gelacht und lustige Geschichten über die Bewohner der Stadt erzählt. Erst die Ansage der Wirtin beendete das fröhliche Gelage. Die Kühle des frühen Morgens war wie ein Schlag ins Gesicht und brachte den Alkohol in Kha’s Blut noch einmal richtig in Wallung. Schwankend kämpfte er mit seiner Orientierung und mit Akiko. Diese torkelte genau wie er und im Gegensatz zu ihm, wurde die Silberhaarige immer lauter. Mit sanfter Gewalt versuchte der Jäger seine Begleiterin in die richtige Richtung zu bugsieren. Der Heimweg selbst war überraschend bruchstückhaft, als wäre er ihn mit geschlossenen Augen gelaufen. Immer wieder fehlten ihm Teile. Er erinnerte sich an einzelne Augenblicke und Momente. Momente in denen Akiko sich an ihm fest hielt, wieder andere, in denen sie ihn von sich weg stieß. Wie er versuchte sie dazu zu bringen, leiser zu reden oder von den Begrenzungsmauern herunter zu steigen. Wie er es letztendlich bis in den Ziegenstall am Hospiz geschafft hatte war ihm ein Rätsel…

Die Sonne war längst aufgegangen und ließ Tinae in seinem schönsten Licht erstrahlen. Sie schlenderte unbeschwert durch die Gassen der Stadt und fand sich vor dem Schaufenster wieder, vor welchem sie diese wunderschönen, eleganten Kleider entdeckt hatte. Form, Schnitt und Farbe hatten sie so faszinierte, dass sie sich ein Herz fasste und vorsichtig das Geschäft betrat. Die Verkäuferin eilte sofort herbei. Sie trug eine elegante Hochsteckfrisur und war äußerst modisch angezogen. Sie sah toll aus. Umwerfend. Akiko schluckte kurz, zeigte dann etwas schüchtern auf eines der Kleider und fragte, was es kosten sollte.
Die Verkäuferin nickte zuversichtlich und antwortete: "Mäh!"
Akiko warf ihr einen fragenden Blick zu. "Was sagten sie, bitte?"
Die Dame lächelte höflich und wiederholte: "Mäh!"
....
Akiko war irgendwie verstört. Mäh? Was sollte denn das heißen?
Das dritte Mäh, welches Akiko wahrnahm, klang deutlich lauter als die anderen.
Nur Augenblicke später spürte sie etwas feuchtes in ihrem Gesicht und schreckte auf. Kaum einen halben Meter neben ihr stand eine Ziege, die genüsslich auf ihrem Heu herumkaute. Akiko befühlte ihre feuchte Wange und starrte die Ziege fassungslos an. Hatte die sie etwa abgeleckt?! Das war ja wiederlich! Doch ihr blieb kaum Zeit darüber nachzudenken, denn schlagartig hatte sie ein anderes Problem. Reflexartig hielt sie sich die Hand vor den Mund und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Vorsichtig kniete sie sich auf den Boden und stütze sich mit der freien Hand am Fußboden ab. Ihr Haar stand kreuz und quer zu Berge. Dazwischen stachen einzelne Strohhalme hervor. Auf ihren Kleidern fanden sich einzelne rote Flecken und den beißenden Geruch des Alkohols konnte sie trotz ihres Zustandes noch leicht wahrnehmen...Was war denn letzte Nacht geschehen...?!

Sein Kopf dröhnte, als wäre ein Pferdewagen darüber gefahren. Die Geräusche um ihn herum hörten sich um ein Vielfaches lauter an als er es gewohnt war. Auch Gerüche die ihm sonst keine Probleme gemacht hätten, verstärkten die Übelkeit nun enorm. Er musste an die frische Luft! Es zog ihn ins Freie und am besten direkt in einen See oder eiskalten Bach um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber auch um zu verhindern, dass er sich im Ziegenstall übergab. Noch leicht taumelnd tastete er sich zum Ausgang und drückte die Holztür auf. Wieder glaubte er, dass Sonnenlicht wollte ihn zum Erblinden bringen. Schützend mit einem Arm vor dem Gesicht holte er tief Luft und richtete sich vorsichtig zu voller Größe auf. Nachdem er einige Male geschluckt hatte, glaubte er die größte Gefahr abgewehrt zu haben. Sein Magen beruhigte sich und auch seine Augen ließen ihn wieder einige Umrisse erkennen. Einer zog ihn dabei magisch an. Er sah den Brunnen des Hospizes. Das gemauerte Rund mit der Kurbel war wie ein Geschenk. Kha merkte nun nämlich auch, dass er schrecklichen Durst hatte. Mit einigen Handgriffen hatte er den Eimer hinab und voll wieder hinauf gezogen. So gierig er auch gerne getrunken hätte, bemühte sich der Jäger mit kleinen Schlucken an zu fangen. Das kalte Wasser schmeckte herrlich. Langsam schien das kreisen vor seinen Augen, das dröhnen im Kopf und das zittern seiner Knie nach zu lassen. Schon deutlich optimistischer knöpfte Kha sein rotes Hemd auf, legte den Überwurf ab, schlüpfte aus den Stiefeln und Beinlingen und wickelte auch die Waden und Armwickel ab. Nachdem er alles zur Seite gelegt hatte, stand er nur noch in der schlichten, weißen Bruoch da, die ihm bis knapp über die Knie reichte. Ohne zu zögern griff er wieder nach dem Holzeimer und schüttete sich das eiskalte Wasser über den Kopf und ganzen Körper. Einen Sekundenbruchteil keimte wieder die Übelkeit auf, doch dann war sie auch schon wieder verschwunden und auch der Druck im Kopf ließ nach. Noch einmal ließ er den Eimer hinab und begann sich mit dem Wasser zu waschen. Grade als er seinen Zopf geöffnet hatte und das Wasser aus diesem wieder hinaus presste, hörte er Geräusche hinter sich aus dem Ziegenstall. Während er sich das Band aus seinen Haaren um die Handfläche wickelte, drehte er sich um und versuchte in den dunkleren Raum zu spähen. „Akiko? Seit ihr wach? Wie geht es euch?“ ,fragte er mit leicht besorgter Stimme und lauschte.

Akiko vernahm eine Stimme von draußen. Das war sicher Kha. Wer hätte es sonst sein können?
„Mir ist…schlecht…“, murmelte sie so leise vor sich hin, dass es vermutlich niemand außer ihr hören konnte. Es erforderte viel Konzentration die drohende Übelkeit unter Verschluss zu halten. Doch es half nicht viel. Der ungewohnte Geruch der Ziegen stieg ihr tief in die Nase und beruhigte ihren Magen nicht wirklich. Im Gegenteil. Sie fühlte sich nicht im Stande aufzustehen, brauchte aber dringend frische Luft. Sie vergaß ihren Stolz und krabbelte auf allen Vieren aus dem Ziegenstall hinaus. Nur weniger Meter nach dem Tor ließ sie sich erschöpft auf den Rücken fallen und sog die frische Luft ein. Ihren Arm hatte sie schützend über ihre Augen gelegt, da das grelle Sonnenlicht sie unsagbar blendete.
So schlecht hatte sie sich schon ewig nicht mehr gefühlt…sie versuchte sich wiederholt an die letzte Nacht zu erinnern. Doch vergebens. Sie hatte tatsächlich keinerlei Erinnerung mehr. Nicht mal bruchstückweise. Alles, was sie noch von sich geben konnte war ein jämmerliches Stöhnen.

Das Murmeln der Silberhaarigen hörte er nicht. Einen kurzen Moment sah er noch zum Stall bevor er sich wieder seiner Katzenwäsche zuwand, Gesicht und Haare wusch und den Kopf wie ein Hund schüttelte. Aus den Augenwinkeln sah er plötzlich etwas aus dem Ziegenstall krabbeln. Es war Akiko. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab und er glaubte sogar Stroh darin erkennen zu können. Erschöpft blieb sie auf dem Rücken liegen und schützte ihre Augen vor der Sonne, genau wie er zuvor. Klare Laute kamen von seiner Begleiterin nicht. Auf seine Fragen antwortete sie nur mit einem langgezogenen Söhnen. Der Jäger wusste nicht ob er Mitleid mit ihr haben sollte oder das Schmunzeln auf seinen Zügen gerechtfertigt war. Er glaubte aber annähernd Mitgefühl für sie haben zu können. Ihm war es genau so ergangen wie ihr. Der Alkohol war schon ein Teufelsgebräu. Nach kurzem zögern nahm Kha den nur noch zur Hälfte gefüllten Holzeimer auf und kippte das verbliebene Wasser gegen sein Gesicht und Oberkörper. Danach holte er wieder frisches aus dem Brunnen und ging mit der Holzkelle zu Akiko hinüber. Neben ihr ließ er sich auf ein Knie herab und stellte den Eimer ab. "Ihr müsst etwas Wasser trinken. Das wird euch gut tun. Glaubt mir." ,sagte er fürsorglich, schöpften eine Kelle voll Wasser aus dem Behälter und hielt diese der jungen Frau entgegen. Das er nur spärlich bekleidet und völlig durchnässt war, war dem Schwarzhaarigen nicht peinlich. Es war ihm aber auch nicht bewusst, das es anderen unangenehm sein könnte.

Nach einigen Augenblicken raffte sich Akiko in eine halb sitzende Position auf, um das angebotene Wasser zu sich nehmen zu können. Erfrischend kühl rann das klare Wasser ihre Kehle hinunter und beruhigte ihren trockenen Mund. Was für ein angenehmes Gefühl. Zumindest für einen kurzen Moment bis sich die Übelkeit wieder in ihr breit machte.
„Das muss ja eine wilde Nacht gewesen sein….“, murmelte sie leise, während sie versuchte sich weiter aufzurichten. Zur Hilfe hielt sie sich leicht an Kha´s Arm fest und bemerkte dabei, dass sein Körper nass war. Die spärliche Bekleidung fiel ihr erst in diesem Augenblick auf. Schnell blickte sie etwas peinlich berührt zur Seite. Dabei blickte sie über den Innenhof des Hospizes, welches sie gestern erreicht hatten. Und schlagartig fiel ihr auch der Grund wieder ein. Arbeit. Sie wollten um Arbeit bitten. „Oh Gott…“, murmelte sie. „Wie spät wird es wohl sein?! Sollten wir nicht heute der Heilerin vorgestellt werden?!“ Ihre Stimme klang aufgeregt, während sie schuldbewusst in Khas Gesicht blickte. „Wie hieß sie doch gleich…? I… I… irgendwas mit I? Na ist jetzt eigentlich auch egal.“
Unsicher blickte sie von links nach rechts und wieder zurück. „In diesem Zustand werde ich keinen guten Eindruck machen…hoffentlich hat uns noch niemand gesehen!“ Mühsam rappelte sie sich auf und stützte ihr Hände auf ihren Knien ab. Das flaue Gefühl in ihrem Magen ließ nicht ab von ihr. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass sie gestern so viel getrunken haben sollte. Eigentlich war sie trinkfest.
„Ich versteh das gar nicht…ich trinke doch sonst auch oft Alkohol…“, rechtfertigte sie sich vor sich selbst. Mehr oder weniger. Sie brauchte schnell einen Plan B. Sie wollte Kha und ihr selbst nicht die Chance vermiesen hier etwas Geld zu verdienen. Sie schwankte leicht vor und zurück, als sie versuchte sich vollends aufzurichten und ihre Kleidung von Schmutz und Stroh zu befreien. Beim Überstreichen ihrer Kleidung spürte sie etwas Ungewohntes. Prüfend durchsuchte sie ihre rechte Tasche und fand – einen Schlüssel. Er schien alt zu sein. Mit ein paar Verschnörkelungen und so. An einigen Stellen sah man kupferfarbenen Rost, was darauf schließen ließ, dass sich der Schlüssel wohl schon längere Zeit im Außenbereich befand. Oder zumindest dort, wo Regen und Feuchtigkeit nicht fern waren. „Kha…? Der…“ Sie hob den Schlüssel leicht an, sodass ihr Begleiter ihn gut sehen konnte.
„…Der ist doch nicht eure,…oder?“

Sie bemühte sich in eine sitzende Position zu kommen und Kha half ihr, indem er den Arm mit der Kelle ausstreckt hielt, so dass sie sich an diesem festhalten konnte. Akiko hatte etwas Wasser getrunken und murmelte wieder etwas vor sich her. Als sie zu ihm blickte, wand sie den Blick sogleich wieder ab und sah über den Hof. Der Jäger folgte verwundert ihrem Blick, wusste aber nicht, wonach sie wohl suchte. Doch scheinbar schien sie zumindest ihre Erinnerung dort wieder zu finden. Ja sie waren in das Hospiz gekommen um dort nach Arbeit zu fragen, die man ihnen auch angeboten hatte. Soweit konnte sich auch der Schwarzhaarige erinnern. Völlig erschrocken, sah die junge Frau ihn wieder an. "Indria?" ,vermutete er, als sie nicht auf den Namen kam. Das war doch der Name der Leiterin dieses Hospizes, wenn er sich richtig erinnerte. Akiko wirkte aufgeregt. Ob ihr ihr jetziger Zustand peinlich war? Fast schon übereilt rappelte sich die Silberhaarige auf und kämpfte weiter mit Übelkeit und Schwäche. Kha erhob sich auch wieder und stellte den Eimer zurück auf den Rand des Brunnens. Vielleicht waren ihre Sorgen ja berechtigt? Einen besonders guten Eindruck würden sie so nicht hinterlassen. Da bot man ihnen einen Platz zum Schlafen an und sie gingen los und tranken zu viel Alkohol. Sogar so viel, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnten, was in der letzten Nacht passiert war. Akiko meinte zwar, sie war es gewöhnt viel von diesem Teufelszeug zu trinken, doch egal wie oft man das tat, Kha konnte sich nicht vorstellen, dass man es irgendwann nicht mehr merken würde. Dafür war dieser Alkohol doch zu...giftig. Selbst bei ihm hatte er zu Gedächtnislücken geführt. Er konnte sich nicht daran erinnern, was sie von ihrem Weg von der Kaserne aus bis zum Hospiz gemacht hatten. Dann stockte die junge Frau plötzlich und zog etwas aus ihrer Tasche. Es war ein Schlüssel. Der Jäger kam etwas näher und besah sich das verschnörkelte, leicht rostige Stück Metall. Als wäre es ein Schlüssel zu seinen Erinnerungen, blitzten plötzlich Bilder vor seinem inneren Auge auf. Nein das war nicht sein Schlüssel aber... "Ich erinnere mich! Ist das nicht der Schlüssel zum Schweinestall an dem wir in der Nacht vorbei gekommen sind?" ,antwortete er. Sie hatten die Schweine gesehen und diese Tiere sogleich bewundert. Kurzerhand waren sie in den Stall hinein gegangen und hatten sie genauer in Augenschein genommen. Kha konnte sich erinnern, das er versucht hatte auf einem besonders großen Eber zu reiten. Und er konnte sich daran erinnern, dass sie das Gatter des Schweinestalles geöffnet hatten... Nein das würde wirklich keinen guten Eindruck hinterlassen... Es war wohl unwahrscheinlich, dass sie die Schweine noch in der Nacht betrunken wieder eingefangen hatten...

„Wie bitte, was?!“, fragte Akiko beinahe schon empört. „Ein Schweinestall?!“ Sie hielt sich beide Hände an den Kopf und versuchte sich krampfhaft an die letzte Nacht zu erinnern. Doch die Mühe blieb vergebens. So sehr sie sich auch mühte, sie konnte sich an keine Schweine erinnern. Offenbar hatte Kha wenigstens noch ein bisschen Erinnerung… oder vielleicht erzählte er ja auch nur Blödsinn. Womöglich hatte er ebenso wenig Erinnerung und hatte nur von Schweinen geträumt?
„Wieso… hätten wir zu einem Schweinestall gehen sollen? Was haben wir denn dort gemacht?“, fragte sie sichtlich verunsichert. Und noch eine weitere Frage drängte sich in ihren Kopf. Was hatten sie außerdem noch gemacht? Sollten sie wirklich, so unwahrscheinlich es auch klang, bei irgendeinem Bauern gelandet sein und dort die Schweine betrachtet – oder was auch immer mit ihnen gemacht haben, dann wäre es nicht auszuschließen, dass sie auch noch anderswo unterwegs gewesen waren.
„Oh man, diese Ungewissheit macht mir echt zu schaffen. Ich kann das gar nicht verstehen…wirklich nicht….ich trinke so oft Alkohol…“
Als sie über ihre Worte nachdachte musste sie feststellen, dass das gerade nicht sehr damenhaft klang. Aber gut, sie war eh nicht sonderlich „damenhaft“. In ihrer Vergangenheit wäre es auch nicht gut gewesen als schwache, zierliche Frau aufzutreten.
„Ganz im Ernst….“sprach sie zu Kha. „Ich frage mich wirklich, ob das „nur“ Alkohol gewesen sein soll. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so verkatert gefühlt. Normalerweise weiß ich sehr gut, was ich mir zumuten kann!“, beteuerte sie und versuchte vorsichtig einige Meter zu laufen. Doch weit kam sie nicht. Sie gab es auf. Im Moment war sie einfach viel zu wackelig und schwach auf den Beinen und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie taumeln und stürzen würde. So ließ sie sich kontrolliert auf ihre Knie sinken und stütze sich mit beiden Händen ab, während sie auf den Boden blickte. „Ich fühl mich so schlecht…und das ist mir so peinlich…“, jammerte sie kleinlaut und wünschte sich im Erdboden versinken zu können. Jetzt fehlte nur noch, dass sie die Mitarbeiter des Hospizes SO sehen würden. Und zu guter Letzt schämte sie sich natürlich auch Kha gegenüber. Sie wollte sich nicht vor ihm so blamieren. Und es wiederstrebte ihr sehr, dass er sie jetzt in diesem erbärmlichen Zustand sah. Wie ein kleines Häufchen Elend, dass sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Wie ein kleines, dummes Mädchen…sie fühlte sich ausgeliefert. Und egal, was sie tun würde – in den nächsten Minuten würde sie sich kaum aufraffen und bei der Arbeit anpacken können. Vielleicht in 2, 3 Stunden..oder auch etwas weniger. Aber nicht sofort. Frustriert biss sie sich auf die Unterlippe, doch gegenwärtig fiel ihr keine Lösung ein.

Warum Schweine? Kha fand das gar nicht so abwegig. Er hatte in seinem Leben nur selten Schweine zu Gesicht bekommen. Sie waren tolle Tiere. Als Ferkel ganz winzig und zerbrechlich, als Eber gewaltig und eigensinnig. Schlau waren sie auch! Der Jäger presste die Lippen aufeinander, das sie noch schmaler wurden und legte eine Hand an seinen Hinterkopf. Nachdenklich sah er einen Augenblick ins Leere. "Hmm... ich glaube um sie uns genauer an zu sehen. In meiner Heimat gibt es keine Schweine. Ich finde sie sehr faszinierend. Ich erinnere mich, wie ihr die Ferkel umarmt habt und ich... ich habe versucht auf einem der Eber zu reiten. Nur mussten wir dazu ins Freie. Vermutlich habe ich die Stalltür aufgeschlossen?" ,schlussfolgerte er und lächelte verlegen. Der Schwarzhaarige beugte sich zu seinen Sachen hinunter und hob sie hoch. Als er sie genauer betrachtete, sah er die Schmutzflecken und roch sogar den Schweinestall. Nein es war kein wirrer Traum von ihm gewesen. Das hieß aber auch, das vermutlich noch irgendwo Schweine durch die Stadt tobten. Der Besitzer hatte mitten in der Nacht den Verlust seiner Tiere bestimmt nicht bemerkt oder wenn dann sicher noch nicht alle wieder eingefangen. Ob sie ihm zumindest seinen Schlüssel zurück bringen sollten? Akiko kämpfte inzwischen noch immer mehr mit sich selbst. Sie vermutete sogar, das man ihnen etwas anderes in den Alkohol gemischt hatte. Da konnte Kha wohl nicht mitreden. Für ihn war das immer Teufelszeug! Er war aber noch mit einem blauen Auge davon gekommen. Seine Begleiterin litt noch sichtlich unter den Folgen. Selbst das Laufen fiel ihr schwer. Eilig begann sich Kha wieder zumindest teilweise an zu ziehen. Noch halb im zweiten Hosenbein steckend, mit nacktem Oberkörper und noch immer offenen, nassen Haaren, hüpfte er die kurze Entfernung zu ihr hinüber und ging wieder in die Hocke. "Macht euch nicht verrückt. Das geht wieder vorbei. Ich werde den Schlüssel zurück bringen und die Situation erklären. Am Besten ihr trinkt viel Wasser und vielleicht könnt ihr nachher ja auch etwas essen." Fürsorglich strich er ihr kurz über den Rücken und erhob sich wieder, nachdem er von ihr den Schlüssel entgegen genommen hatte. Er stellte sich schon darauf ein, beim Einfangen der Schweine zu helfen. Hoffentlich war keines zu Schaden gekommen. das könnte auch schnell teuer werden. Und die Waffe für Akiko mussten sie ja auch noch abholen... Der Jäger drückte noch einmal die Reste des Wassers aus seinen Haaren und wickelte das weiße Band wieder um diese. Dann zog er auch den Rest seiner Sachen wieder an. Inzwischen war außer leichter Kopfschmerzen für ihn der größte Kater vorbei. Das man den Alkoholrausch so nannte war ihm noch nicht bekannt.

Auf Zehenspitzen war Helen am Morgen durch den Stall geschlichen, um die beiden Fremden nicht zu wecken, die zwischen den Ziegen im Stroh schliefen. Zumindest beim ersten Mal. Als sie später zurückkehrte und Schneeli melkte, dabei versehentlich die Schemel umstiess und die beiden sich nicht rührten, bewegte sie sich etwas beruhigter. Neugierig betrachtete sie die beiden Fremden genauer, besonders die hübsche Frau mit dem langen weissen Haar faszinierte sie. Akiko. An den Namen des Mannes konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur noch, dass es irgendetwas kurzes war. Helen wandte sich ihm zu, seine Kleidung war seltsam, scheu strich sie über den feinen Pelz und berührte dabei versehentlich auch seine schwarzen Haare. Tiefschwarz, dick und so lang wie bei einer Frau. Unschlüssig, was sie tun sollte, hockte Helen im Stroh. Die Ziege neben ihr meckerte fordernd nach Futter. Der Mann bewegte sich und das Mädchen sprang erschrocken auf. Lautlos huschte sie aus dem Stall.
Von hinter der Ecke beobachtete es, wie der Mann nach einer ganzen Weile schwerfällig aus dem Stall wankte und zum Brunnen torkelte. Es schien ihm nicht besonders gut zu gehen, aber wenigstens wusste Helen nun, wie sie ihm helfen konnte. Zielstrebig lief sie in die Küche.

Als sie nach einer Weile zurück kehrte, war auch Akiko auf. Sie sah allerdings noch schlechter aus als der Mann. Richtig elend sass sie auf dem Boden und lehnte sich an die Hauswand. Helen hoffte, dass sie nicht krank war und nur die Katze hatte. Vorsichtig, damit die Flüssigkeit in den beiden Schüsseln nicht überschwappte, ging sie auf sie zu.
„Guten Morgen“, begrüsste sie höflich und reichte jedem behutsam ein Schüsselchen. „Das vertreibt die Katze, sagt Martha. Sie gibt es immer den Männern, die am Morgen kotzend über dem Nachttopf hängen. Meist fühlen sie sich kurz noch schlechter, aber dann hören sie sofort mit dem Erbrechen auf.“
Fröhlich blickte sie die beiden aus und platzte mit einer weiteren Neuigkeit heraus: „Lyn war heute Morgen da und hat nach einer weisshaarigen jungen Frau gefragt, ich glaube, sie hat dich gemeint“, verkündete sie Akiko. „Lyn und ihre Freundinnnen sind echt nett, sie bringt mir immer etwas von ihren Reisen mit. Und sie hat mit den bösen Ratten-Buben geredet, damit sie mich in Ruhe lassen.“
Sie strahlte vor Freude und bewegte sich aufgeregt, wobei sie etwas Trank verschüttete. Zum Glück war er nicht mehr so heiss, dass er ihr die Finger verbrannte, trotzdem tat es etwas weh. Tapfer presste Helen die Lippen zusammen und versuchte die Schüsselchen wieder still zu halten.

Unglaubwürdig blickte sie Kha an, als er ihr erzählte, dass sie die kleinen Ferkel umarmt haben soll und er auf einem Schwein reiten wollte?! Einem Schwein!? Warum nicht auf einem schönen, stolzen Pferd?
Sie hatte bisher lediglich mit Wildschweinen zu tun gehabt und wusste, dass diese Tiere, besonders, wenn sie sich angegriffen fühlen, sehr gefährlich werden konnten. Nicht selten endete eine Wildschweinjagd tödlich. Und zwar nicht immer für das Wildschwein. Ihr war nicht so richtig klar, ob die domestizierten Hausschweine vielleicht etwas ruhiger im Charakter waren, aber die Tatsache, dass sie Kha nicht von diesem Ritt und den Kontakt zu den Schweinen abgehalten hatte war ein weiterer Beweis dafür, dass sie wirklich nicht ganz bei Sinnen war. Nach wie vor hatte sie keinerlei Erinnerungen an die letzte Nacht und konnte sich nur an Kha´s Erzählungen orientieren.

Pflichtbewusst, wie er zu sein schien, wollte er den Schlüssel zurück bringen und die Sache wieder bereinigen. Seine Aufrichtigkeit war wirklich lobenswert, aber sie würde sicher auch viele Probleme mit sich bringen. Ganz gleich wie Akiko darüber dachte, im Moment konnte sie weder Kha helfen noch ihn aufhalten. Gerade als Kha aufbrechen wollte wackelte das kleine Mädchen über den Hof hinüber zu den beiden.
„Oh…Ähm Guten Morgen Helen.“, erwiderte Akiko, als sie so freundlich begrüßt wurden.
Das Gebräu, welches sich in den Schüsseln des kleinen Mädchens befand, wanderte in Akikos Nase und ließ sogleich ihren Magen verkrampfen. Es roch fürchterlich. Zeitgleich wurde ihr klar, dass es keinen Sinn machte sich länger zu „verstecken“. Wenn Helen den beiden ein Getränk anbot, welches Martha in der Küche zubereitet hatte, dann musste es ja die Runde gemacht haben, dass die „beiden Neuen“ heute nicht ganz auf der Höhe waren.
„Viel schlimmer kann es ja nun kaum noch werden“, murmelte Akiko, nahm Helen das Getränk ab und setzte ohne lange zu überlegen die Schüssel an ihren Mund. Die warme Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab, doch der schreckliche Geschmack war wirklich kaum zu ertragen. Hektisch riss sie die Schüssel wieder von ihrem Mund weg und atmete tief durch. Und wieder wurde sie eines besseren belehrt – offenbar konnte es noch viel schlimmer kommen.

„Lyn? Wer ist das?“, fragte sie zwischendurch, als Helen anfing zu erzählen, dass nach ihr gefragt wurde. Wie konnte das denn sein? Wer wusste schon, dass sie hier ist? Wer kannte sie denn aus Tinae?...Auch der nächste Satz brachte mehr Verwirrung als Klarheit.
„Und von welchen bösen Ratten-Buben sprichst du?“